Wie lässt sich Virtual Reality ethisch vertretbar im Unterricht einsetzen?

20.12.2024: Neue Technologien sollten im Schulunterricht verantwortungsvoll eingesetzt werden. Aber was bedeutet das konkret, wenn es um die Gestaltung virtueller Realitäten geht? Dr. Alexander Skulmowski, Juniorprofessor für Digitale Bildung an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, schlägt in seinem Kurzbeitrag vier ethische Prinzipien für den Einsatz von VR-Technologien im Unterricht vor.


Durch die wachsende Verbreitung von Geräten mit deren Hilfe Lernende in virtuelle Welten eintauchen können, steigt nicht nur das Interesse an pädagogisch sinnvollen Konzepten, sondern es stellen sich auch ethische Fragen im Zusammenhang mit der Nutzung von Virtual Reality (VR). Zwar empfinden Lernende die Vermittlung von Inhalten in VR oft als motivierend, jedoch sollten Lehrkräfte beim Einsatz der betreffenden Technologien auf einige Problembereiche achten, um negative Konsequenzen zu vermeiden.

In diesem Kurzbeitrag werden die vier Prinzipien für eine ethisch vertretbare Nutzung von VR-Technologien in der Bildung aus Skulmowski (2023) vorgestellt, zusammengefasst und auf den Einsatz im Unterricht angewendet. Die aktuelle Forschung zum Themenkomplex Ethik und VR in der Schulbildung befasst sich sowohl mit der Mikroebene der einzelnen Schülerinnen und Schüler und ihren individuellen Lernprozessen und mit Datenschutz- und Sicherheitsfragen mit Relevanz für Lehrkräfte, als auch mit der Makroebene der gesellschaftlichen Herausforderungen durch die Nutzung der Technologien. Diese Ergebnisse lassen sich nach Skulmowski (2023) zu den folgenden Prinzipien für eine ethisch vertretbare Nutzung von VR-Technologien in der Bildung bündeln:

  1. die Einhaltung der inhaltlichen Passung,
  2. das Bewusstsein für Exklusionsrisiken,
  3. der Erhalt der Autonomie,
  4. die Sicherung des Datenschutzes.

Prinzip 1: Einhaltung der inhaltlichen Passung

Die Nutzung digitaler Technologien stellt nicht nur ein didaktisches Problem, sondern auch eine ethische Herausforderung dar. Der Einsatz digitaler Technologien ist oft mit Fragen der Nachhaltigkeit, sozialer Benachteiligung und der Bevorzugung bestimmter Lernender verbunden (siehe Prinzip 2). Lehrkräfte nutzen Technologien oft in der Hoffnung, ihren Schülerinnen und Schülern ein besonderes Lernerlebnis bieten zu können und hierdurch das Interesse an den Inhalten zu erhöhen. Dieser Gedanke wird auch durch einige Forschungsergebnisse bestätigt, doch reichen diese Effekte häufig nicht aus, um auch die Lernleistung zu erhöhen (z. B. Makransky et al., 2021). Es gibt allerdings auch Belege, dass sich VR für Lerninhalte eignet, die man entweder aufgrund eines hohen (Kosten-)Aufwands nicht vor Ort betrachten kann oder bei denen Aspekte sichtbar gemacht werden können, die der Wahrnehmung sonst verborgen blieben (Dalgarno & Lee, 2010). Das Eintauchen in das Leben einer Löwenfamilie mittels 360°-Videos oder die Veranschaulichung unsichtbarer physikalischer Kräfte in einer VR-Simulation sind zwei Beispiele hierfür.

Die Grundüberlegung bei der Nutzung von VR sollte darum sein, ob man die Vorteile der Technologie zur Vermittlung des Stoffes nutzt (Mayer et al., 2023). Wichtig ist es hierbei zu bedenken, dass viele Gestaltungsfaktoren mit einer bestimmten kognitiven Belastung einhergehen (für eine Übersicht, siehe Makransky & Petersen, 2021). So muss für die Verwendung einer interaktiven Simulation zunächst die Bedienung erlernt werden, bevor man sich dem eigentlichen Lerninhalt widmen kann (siehe auch Skulmowski & Xu, 2022). Daher ist es essentiell zu analysieren, ob eine Anwendung eine Ablenkung vom eigentlichen Inhalt darstellt (Mayer et al., 2023). Eine Nutzung von VR im Unterricht bloß zur Abwechslung oder um durch den Neuheitswert Interesse zu generieren, sollte auch aus ethischer Perspektive abgewogen werden. Sofern sich durch eine Analyse der VR-Anwendungen keinerlei kognitive Vorteile, dafür aber ablenkungsbedingte Nachteile (z. B. wenn sich Lernende zu stark mit ihrer virtuellen Umgebung anstelle mit den Lerninhalten befassen) abzeichnen (siehe Skulmowski & Xu, 2022), ist fraglich, ob eine Nutzung mit dem ethischen Prinzip des Vermeidens von Schaden in Einklang gebracht werden kann. Daher gehört zur ethischen Nutzung von VR immer eine genaue Auseinandersetzung mit den Inhalten und der Präsentation einer VR-Anwendung.

Prinzip 2: Bewusstsein für Exklusionsrisiken

Durch die Komplexität virtueller Lernszenarien können Eigenschaften von Lernenden eine stärkere Wirkung entfalten. Aus empirischen Studien wird z. B. ersichtlich, dass Lernende mit einer hohen Fähigkeit auf dem Gebiet des räumlichen Denkens von der Arbeit mit realistischen virtuellen Modellen profitieren, während sich hierdurch die Leistung von Lernenden mit einer geringen Fähigkeit zum räumlichen Denken sogar verschlechtern kann (Huk, 2006). Daher ist es ratsam, auf diese Vorbedingung der Lernenden zu achten und ggf. alternative Lernmaterialien anzubieten, die z. B. nicht ohne Beschränkung dreh- und bewegbar sind. Eine weitere Bedingung für die Verwendung von VR im Unterricht ist es, über gesundheitliche Folgen wie Schwindel und Übelkeit aufzuklären („Motion Sickness“). Lehrkräfte sollten auch für diesen Fall geeignete Alternativen bereitstellen.

Prinzip 3: Erhalt der Autonomie

VR eignet sich sehr gut für die Schaffung einprägsamer Erfahrungen. In der Literatur wird jedoch verstärkt das Risiko einer Abnahme der Autonomie der Lernenden hervorgehoben. Drastische Formulierungen dieser Gefahr sind mitunter, dass eine „Gehirnwäsche“ mittels VR möglich sei (O’Brolcháin et al., 2016). In jedem Fall sollten Lehrkräfte zum Erhalt der Autonomie darauf achten, dass Lernumgebungen keine manipulativen Komponenten enthalten (Skulmowski, 2023; Slater et al., 2020). VR-Welten bieten durch ihre lebensnahe und teilweise hochrealistische Anmutung ein viel größeres Potenzial, Lernende zu beeinflussen, als andere Medien (Skulmowski, 2023; Slater et al., 2020). So könnte eine VR-Umgebung beispielsweise so gestaltet sein, dass die Interaktion mit einer bestimmten Personengruppe immer positive Folgen hat, die Interaktion mit einer anderen Gruppe jedoch vorwiegend negativ abläuft. Auf diese Weise ließen sich sehr leicht Vorurteile und negative Stereotypen erzeugen. Eine weitere Empfehlung ist, dass der Realismusgrad veränderbar sein sollte, um eine kritische Distanz zu den Inhalten bewahren zu können (Slater et al., 2020). So kann vermieden werden, dass Schülerinnen und Schüler die Inhalte ohne weiteres Nachdenken akzeptieren und sich nicht weiter mit ihnen auseinandersetzen. Gleichzeitig ist es denkbar, dass die Glaubwürdigkeit von virtuellen Lernmedien höher ausfällt, wenn Schülerinnen und Schüler keine Anzeichen für eine Beeinflussung entdecken können. Hierbei entsteht ein komplexes Spannungsfeld zwischen dem Wunsch von Lehrkräften, ihren Schülerinnen und Schülern bestimmte Inhalte, Werte und Überzeugungen zu vermitteln, dabei aber nicht auf eine autonomiegefährdende Methode zu setzen.

Prinzip 4: Sicherung des Datenschutzes

VR-Geräte werden oft lediglich als ein weiteres Anzeigegerät wahrgenommen, wodurch das Ausmaß der durch sie ermöglichten Datensammlung verkannt wird. Aktuelle VR-Geräte erfassen die Position des Geräts und der dazugehörigen Steuerelemente und somit auch Verhaltensdaten. Basierend auf diesen Daten können weitere Analysen vorgenommen werden, z. B. wie zögerlich Lernende sind, wie gewissenhaft sie arbeiten oder wie erfolgreich sie die Lernziele erreichen. Aus diesen Analysen lassen sich detaillierte Persönlichkeitsprofile zusammenstellen (Skulmowski, 2023).

Insbesondere bei der Nutzung von Geräten oder Anwendungen, welche Daten der Nutzenden in Länder mit geringem Datenschutzniveau versenden, können sich vielfältige mitunter auch problematische Nutzungsszenarien der Daten ergeben, wie z. B. der Weiterverkauf an Recruitingdienstleister (Skulmowski, 2023). Daher ist es für eine ethische Nutzung geboten, dass den Schülerinnen und Schülern keine Chancen durch im späteren Lebensweg negativ wirkende Daten verbaut werden. Lehrkräfte müssen darauf achten, dass sie ausschließlich VR-Technologien verwenden, die den Anforderungen der DSGVO entsprechen. Hiermit können sie vermeiden, dass die Daten der Schülerinnen und Schüler unkontrolliert abfließen und schlimmstenfalls in offenen Datenbanken im Internet landen.

Zusammenfassung

Die Einhaltung der beschriebenen Prinzipien trägt zur ethischen Vertretbarkeit der Nutzung von VR-Technologien in der Schule bei. Zwar ist es unwahrscheinlich, dass alle Schulen in der nahen Zukunft mit teuren VR-Brillen und der dazugehörigen Hardware ausgestattet sein werden, jedoch lassen sich virtuelle Inhalte mit einer Vielzahl von Endgeräten darstellen, wie z. B. mit Smartphones in Kartonvorrichtungen, die ein VR-Gerät für viele Zwecke ersetzen können. Auch können reguläre PCs zur Betrachtung von 360°-Videos oder zum Lernen mit 3D-Simulationen verwendet werden. Neben diesen breit verfügbaren Endgeräten werden sich durch Geräte, welche die virtuelle mit der realen Welt kombinieren (Augmented Reality, AR), neue ethische Herausforderungen ergeben.

Zusammenfassend betrachtet sollten sich Lehrkräfte nicht darauf verlassen, dass VR-Technologien ein großes Interesse und damit automatisch einen hohen Lernzuwachs auslösen. Lehrkräfte sollten sich bewusst sein, dass VR-Technologien eine Lernaufgabe grundlegend verändern und dabei ethische Probleme der Exklusion, des Datenschutzes und der Autonomie aufwerfen. Damit die Vorteile von VR überhaupt die ethischen Herausforderungen überwiegen, muss die Nutzung von VR-Technologien den Lernzielen angepasst sein. Der pädagogische Nutzen wird hierbei also zu einem ethischen Kriterium. Sobald es grundsätzlich sinnvoll ist, VR-Technologie für eine Lernaufgabe einzusetzen, bieten die restlichen in diesem Beitrag dargestellten Prinzipien weitere ethische Leitlinien. Insbesondere die Spannungsfelder der Exklusionsrisiken bei gleichzeitiger Schaffung von Vorteilen basierend auf dem räumlichen Denken sowie der Wunsch nach überzeugenden virtuellen Umgebungen, ohne die Autonomie der Schülerinnen und Schüler zu beschränken, stellen hierbei Herausforderungen dar. Dieser Widersprüchlichkeit sollten sich Lehrkräfte bewusst sein und aus der Reflexion eine eigene Position entwickeln. Im besten Fall finden sie auf diese Weise Wege, die Möglichkeiten neuer Technologien zu nutzen und dabei die Autonomie, die Informationssicherheit und die Gesundheit ihrer Schülerinnen und Schüler zu bewahren.


Über den Autor

Dr. Alexander Skulmowski ist Juniorprofessor für Digitale Bildung an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe und dort stellvertretender Leiter des Instituts für Informatik und digitale Bildung. Als Pädagogischer Kognitionswissenschaftler untersucht er die Lernförderlichkeit digitaler Bildungsmedien sowie die ethischen Implikationen neuester Technologien. Mit seiner Forschung trägt er dazu bei, die Chancen und Risiken der Digitalisierung differenziert zu analysieren, empirisch zu untersuchen und theoretisch zu kontextualisieren. Sein Fokus liegt dabei auf den kognitiven Effekten von Lernmedien.


Dieser Beitrag ist in gekürzter Form ebenfalls im lernen:digital Zukunftsraum erschienen. Er wurde gemeinsam mit dem Redaktionsteam des Zukunftsraums betreut.