Virtual Reality im Physikunterricht – Schulklassen experimentieren an der LMU München
12.09.2024: Am Lehrstuhl für Didaktik der Physik der Ludwigs-Maximilians-Universität München (LMU) gibt es ein Unterrichtslabor, in dem Schulklassen unter anderem VR-Anwendungen erproben können. Der folgende Beitrag zeigt an einem Beispiel aus dem Bereich Optik, welches Potenzial solche Anwendungen für das Verständnis komplexer Konzepte haben können.
Es ist ein Mittwochvormittag, 10 Uhr – auf den Gängen des zuvor noch ruhigen Lehrstuhls für Didaktik der Physik an der LMU München wird es auf einmal turbulent als 27 Schülerinnen und Schüler einer achten Klasse und zwei begleitende Lehrkräfte um die Ecke kommen und im Foyer empfangen werden. Salome Flegr und weitere Mitarbeitende des Lehrstuhls begrüßen den Besuch: „Herzlich Willkommen bei uns im Schülerlabor der Didaktik der Physik! Wir freuen uns, dass ihr hier seid und haben heute einige spannende Lernanwendungen für euch vorbereitet.“ Die Schülerinnen und Schüler dürfen nach einer kurzen allgemeinen Einführung im Foyer in den großen Schülerlabor-Raum hinein und es sich auf den vorbereiteten Stühlen bequem machen. Im Laufe des Vormittags werden sie mit Hands-on-Experimenten, aber auch mit Virtual-Reality-Experimenten arbeiten. Dabei werden sie von einem Team aus Lehrstuhl-Mitarbeitenden angeleitet und technisch unterstützt. Hier muss niemand schon mit technischem Vorwissen kommen, alles wird Schritt für Schritt erklärt und begleitet.
Die Lehrkräfte dürfen auch selbst einmal in die Virtual-Reality-Lernanwendungen hineinschlüpfen. „Es ist toll, dass wir mit unseren Klassen hierherkommen können, weil uns an der Schule einfach die Ausstattung und der technologische Support fehlen, um beispielsweise Virtual Reality selbst mit vielen Schülerinnen und Schülern gleichzeitig auszuprobieren“, meint eine Lehrkraft aus einem Münchner Gymnasium. Hier ist der Ausflug an sich schon ein Erlebnis für die Schülerinnen und Schüler und dass sie dann auch noch Experimente durchführen und mit Virtual-Reality-Brillen arbeiten dürfen, macht die Erfahrung zu einem Highlight. „Ich genieße es auch, selbst einfach einmal zuschauen und ausprobieren zu dürfen, während meine Klasse lernt. Ich sehe da großes Potential in den Möglichkeiten von neuen Technologien für den Unterricht, insbesondere, wenn die Anwendungen in einem Schülerlabor wie eurem angeboten werden“, fügt die Lehrkraft hinzu, nachdem sie die Brille wieder abgesetzt hat und den Lernaktivitäten der Schülerinnen und Schüler im Raum zuschaut (s. Abbildung 1).
Die Schülerinnen und Schüler bearbeiten das Optik-Modul des Schülerlabors am Lehrstuhl für Didaktik der Physik an der LMU München. Sie untersuchen, wie die Lichtbrechung an einer Sammellinse funktioniert und wie mit Sammellinsen leuchtende Gegenstände auf einem Schirm abgebildet werden können. Dafür verschieben sie den Gegenstand vor der Linse, decken die Linse teilweise ab oder ändern die Brennweite der Linse.
Das Schülerlabor „iMPULSE“
Das Schülerlabor „iMPULSE“ (integriertes Münchner Physik-Unterrichts-Labor für Schüler-Experimente) ist derzeit im Aufbau. Bisher gibt es noch kein breites Programm-Angebot, es sind jedoch einige Module geplant. Das Optik-Modul für die Klassenstufe 8 ist das erste Modul, das regelmäßig im Schülerlabor angeboten wird. Alle Module im Schülerlabor iMPULSE sollen kontinuierlich weiterentwickelt werden, sodass sie „am Zahn der Zeit“ bleiben und neuste wissenschaftliche Erkenntnisse und technologische Entwicklungen berücksichtigen können. Das Optik-Modul wird aktuell im Projekt MINT-ProNeD weiterentwickelt.
Schulklassen, die das Optik-Modul im Schülerlabor testen möchten, kommen in der Regel für mindestens zwei Stunden an den Lehrstuhl für Didaktik der Physik der LMU München. Nach einer Einführung in das physikalische Thema und in die Technik arbeiten die Schülerinnen und Schüler im Wechsel mit klassischen Hands-on-Experimenten, einer Simulation und einer Virtual-Reality-Umgebung (VR-Experiment), um möglichst unterschiedliche Lerngelegenheiten zu kombinieren.
Experimente zur Abbildung durch eine Sammellinse
Das Thema „Abbildung durch eine Sammellinse“ ist ein curricularer Bestandteil im Bereich Optik im Physikunterricht der Mittelstufe. Typischerweise werden zu diesem Themenmodul von den Schülerinnen und Schülern Experimente durchgeführt, die zwar einfach in der Handhabung, jedoch anspruchsvoll im Verständnis sind. Die Schwierigkeiten ergeben sich vor allem daraus, dass in den Experimenten zwar Phänomene beobachtet und untersucht werden können, deren Ursprung und die dahinterliegenden Konzepte jedoch nicht im Experiment beobachtet werden können. Aus diesem Grund fällt den Lernenden der Schritt vom Beobachten zum Erklären und Verstehen der Phänomene besonders schwer.
Das Hands-on-Experiment und die Simulation
Das klassische Experiment wird in Abbildung 2 dargestellt: Links ist eine Lampe zu sehen, die durch eine F-Blende ein helles „F“ durch die Linse wirft. In der Mitte ist die Sammellinse in ihrer Halterung angebracht, rechts ein Schirm, auf dem das helle „F“ (der Gegenstand) abgebildet wird. Das helle „F“ auf dem Schirm ist das „Bild des Gegenstands“. Untersucht wird meist der Zusammenhang zwischen der Position der Lampe vor der Linse und dem Bild auf dem Schirm sowie der Brennweite der Linse und dem Bild. Außerdem wird beobachtet, was geschieht, wenn die Linse teilweise abgedeckt wird, zum Beispiel mithilfe einer Lochblende.
Die Abbildung des Gegenstands ist einfach zu beobachten, jedoch mithilfe dieses Experiments nicht einfach zu erklären: Konzeptuell kann man die Abbildung des Gegenstands mithilfe des Lichtbündels erklären, das durch die Linse fällt. Zur Vorhersage des Ortes der scharfen Abbildung auf dem Schirm können die sogenannten „Konstruktionsstrahlen“ zur Hilfe genommen werden. Sowohl Lichtbündel als auch Konstruktionsstrahlen sind nicht im Hands-on-Experiment beobachtbar und müssen entweder mithilfe von Abbildungen als Momentaufnahmen des Versuchs oder durch eine Simulation veranschaulicht werden. Eine solche Simulation ist beispielhaft in Abbildung 3 dargestellt. In der Simulation können verschiedene Variablen des Versuchs mithilfe von Schiebereglern eingestellt werden. Die Konsequenzen dieser Änderung der Ausgangsvariablen lassen sich dynamisch beobachten, sodass mit der Simulation systematisch die Zusammenhänge einzelner Variablen untersucht werden können. Aus diesem Grund spricht man bei solchen Simulationen auch von „Simulationsexperimenten“.
Kombination von Hands-on-Experiment und Simulation
Das klassische Experiment und die Simulation können kombiniert werden, um den Schülerinnen und Schülern das Verständnis der zugrundeliegenden Konzepte zu diesem Lerngegenstand zu erleichtern. Da sowohl das klassische Hands-on-Experiment als auch die Simulation schon gute Lerneffekte erzielen können, setzen wir auch diese beiden Experimentierformate im Schülerlabor der LMU ein (s. Abbildung 4).
Die Herausforderung besteht darin, dass die beiden Repräsentationen (klassisches Experiment und Simulation) systematisch zueinander in Beziehung gesetzt werden müssen. Die Lernenden müssen ihre Aufmerksamkeit stets von der einen zur anderen Repräsentation lenken, die beiden Darstellungen interpretieren und ihre Beobachtungen und Erkenntnisse zu beiden Darstellungen in Einklang bringen.
Das Virtual-Reality-Experiment
Hier setzt das Virtual-Reality-Experiment an: Für die VR-Umgebung wurde der Tisch mit dem klassischen Experiment nachgebaut (s. Abbildung 5) und die Lernenden können, ähnlich wie in der Realität, mit den einzelnen Komponenten des Experiments interagieren.
Über die VR-Brille sehen die Schülerinnen und Schüler den Versuchsaufbau und können mit den Controllern in ihren Händen die Lampe näher an die Linse heran oder weiter von der Linse wegschieben. Sie können die Brennweite der Linse verändern und eine Blende vor die Linse stellen.
Im Vergleich zum Hands-on-Experiment besteht in der VR-Umgebung der große Vorteil, dass man Unsichtbares bzw. Konzeptuelles sichtbar und greifbar machen kann. Sowohl die Konstruktionsstrahlen als auch das Lichtbündel können (einzeln angesteuert) direkt in den Experimentieraufbau eingeblendet werden. Zudem kann der Ort der scharfen Abbildung stets über einen halbtransparenten Schirm angezeigt werden, während zusätzlich ein verschiebbarer „echter Schirm“ angezeigt wird, auf dem das Bild (wie im klassischen Hands-on-Experiment) unscharf angezeigt wird, solange er nicht am Ort der schärfsten Abbildung steht (wo der halbtransparente Schirm lokalisiert ist, s. Abbildung 6).
Auf diese Art und Weise können eventuell vorliegende Fehlvorstellungen bei den Schülerinnen und Schülern (Schülervorstellungen) direkt im Experiment adressiert werden und die physikalischen Konzepte können anschaulich vermittelt werden. Beispielsweise hat ein langsames Schließen der Lochblende (vgl. Abbildung 7) den Effekt, dass das Bild des Gegenstands (hier ein „P“), nicht an den Rändern abgeschnitten wird (wie häufig fälschlicherweise angenommen), sondern lediglich lichtschwächer, also blasser wird. Das kann man darauf zurückführen, dass die Konstruktionsstrahlen als geometrisches Konstrukt gleich bleiben und die Abbildung deshalb gleich konstruiert wird, jedoch weniger Licht die Linse passieren kann. Alle Lichtstrahlen des Lichtbündels, das die Linse passiert, werden trotzdem gebrochen und tragen zur punktweisen Bildentstehung bei.
In der VR-Umgebung kann man diesen Aspekt anschaulich beobachten, wie in Abbildung 7 zu sehen. Die Konstruktionsstrahlen sind nicht identisch mit dem Lichtbündel und verlaufen (auch trotz Lochblende) auf ihren geometrisch festgelegten Linien. Das Lichtbündel wird durch die sich schließende Lochblende kleiner und weniger Licht kommt auf der andern Seite der Linse an.
Fazit und Ausblick
Der Einsatz von Virtual Reality bietet im Fach Physik viele Potentiale für ein besseres Verständnis grundlegender Konzepte, beispielsweise durch die Integration von konzeptuellen Hintergründen eines Sachverhalts direkt in das jeweilige Experiment. Durch die bisher geringe Verbreitung von VR-Brillen an Schulen bietet es sich an, dass Schulklassen zum Lernen mit dieser Technik an das dafür ausgestattete Schülerlabor der Universität kommen. Hier wird die VR-Lernerfahrung in eine komplette Unterrichtsstunde eingebettet. Zusätzlich erhalten die Besuchenden Einblicke in die Arbeit und Forschung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Fachdidaktik und können sich direkt an Forschungsprojekten beteiligen, indem sie ihre Lerndaten für Forschungszwecke zur Verfügung stellen. Für die Forschenden bietet sich hier die wertvolle Gelegenheit, ihre entwickelten Materialien live im Einsatz zu erleben und mithilfe von Prozessdaten aus der Experimentierstunde Erkenntnisse zum gelingenden Lernen zu erlangen. Im Schülerlabor trifft somit Forschung auf Praxis.
Perspektivisch bieten neue digitale Lernmedien im Bereich Extended Reality (XR) auch für den Einsatz direkt an Schulen vielfältige Perspektiven, um das Lernen für Schülerinnen und Schüler anschaulicher zu gestalten.
Über die Autorinnen und Autoren
Dr. Salome Flegr ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Didaktik der Physik der LMU München und leitet das Schülerlabor iMPULSE (Kontakt: salome.flegr@physik.uni-muenchen.de).
Sergey Mukhametov ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der RPTU Kaiserslautern-Landau und hat die VR-Umgebung, gemeinsam mit Steffen Menne von der RPTU Kaiserslautern-Landau, in Zusammenarbeit mit Salome Flegr entwickelt. Dabei fand die technische Entwicklung an der RPTU Kaiserslautern-Landau statt, während Salome Flegr den inhaltlichen Input, die konzeptuellen Aspekte und die Aufgabenstellungen beisteuerte.
AR Dr. Christoph Hoyer ist Leiter der Nachwuchsgruppe „XR“ am Lehrstuhl für Didaktik der Physik der LMU München.
Prof. Dr. Jochen Kuhn ist der Leiter des Lehrstuhls für Didaktik der Physik der LMU München.