Lernbegleiter Comic: Digitalgestützt in der Grundschule experimentieren
25.04.2025: Mit ihrem für den Sachunterricht entwickelten Comic zeigen Prof. Dr. Silke Mikelskis-Seifert und Dr. Martina Graichen wie Grundschulkinder mit diesem Medium naturwissenschaftliche Phänomene entdecken und erforschen können – praxisnah, kreativ und inklusiv. Ihr Beitrag gibt Impulse für eine barrierefreie und adaptive Gestaltung des Sachunterrichts.
Experimentieren als Schlüssel für Teilhabe − die Chancen digitaler Medien
Es besteht ein breiter Konsens darüber, dass das Experimentieren eine bedeutsame Rolle im naturwissenschaftlichen Unterricht spielt. Dies gilt nicht nur für die Sekundarstufe, sondern bereits für den Sachunterricht in der Grundschule. Insbesondere für den Sachunterricht sind in Bildungsplänen, wie beispielsweise in Baden-Württemberg (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, 2016), verpflichtende Experimente vorgesehen, die Schülerinnen und Schüler eigenständig durchführen sollen. Es zeigt sich jedoch, dass Lehrkräfte beim Experimentieren, vor allem im Bereich physikalischer oder chemischer Phänomene, mitunter Unsicherheiten haben und deshalb nach praxistauglichen Lösungen und Unterstützung suchen.

Darüber hinaus ist das naturwissenschaftliche Experimentieren für die Entwicklung von Scientific Literacy von großer Bedeutung. Scientific Literacy ist eine Schlüsselkompetenz, die laut PISA-Studie (OECD, 2007) die Fähigkeiten umfasst, wissenschaftliche Fragestellungen zu erkennen, Phänomene wissenschaftlich zu erklären und die erlangten Erkenntnisse für Entscheidungen zu nutzen. Das eigenständige Experimentieren, und damit die auch die anleitenden Lernumgebungen, fördern Teilkompetenzen der Scientific Literacy (Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, 2005). In diesem Sinne sollte es das Ziel sein, allen Schülerinnen und Schülern gleichberechtigt die Teilhabe am Experimentieren (Abbildung 1) zu ermöglichen (United Nations, 2006).
Digitale Medien können hier Möglichkeiten eröffnen, indem sie Schülerinnen und Schüler beispielsweise beim Aufbau naturwissenschaftlicher Denk- und Arbeitsweisen unterstützen (Fränkel & Schroeder, 2023; Stinken-Rösner et al., 2023). Das Verständnis für fachliche Inhalte kann erleichtert werden und es werden spannende Einblicke in die Welt der Naturwissenschaften ermöglicht. Darüber hinaus trägt der Einsatz digitaler Medien dazu bei, dass Schülerinnen und Schüler ihre Medienkompetenz ausbauen können (Dirks et al., 2018; Irion, 2016). Schulische Lerngruppen sind insbesondere in den Grundschulen meist sehr heterogen in Bezug auf Sprache, Geschlecht, Motivation oder fachliche Vorkenntnisse (Kindermann & Pohlmann-Rother, 2022; Lohrke, 2019). Hier bieten digitale Lernangebote eine flexible Unterstützung: Sowohl das kollaborative als auch das individualisierte Lernen können gefördert werden.
Storytelling: Digitale Lerncomics
Um das Experimentieren allen Schülerinnen und Schülern zugänglich zu machen, werden an der Pädagogischen Hochschule Freiburg seit 2020 digitale Lerncomics entwickelt und mit Schulklassen erprobt bzw. weiterentwickelt (Graichen et al., 2022, 2024; Jungbluth et al., 2024). Hierzu wurde eine Professionelle Lerngemeinschaft (PLG) ins Leben gerufen. Sie besteht aus Lehrkräften des naturwissenschaftlichen Sachunterrichts und Wissenschaftler/innen. Der Vorteil einer PLG ist es, über einen systematischen Austausch gemeinsame Lösungen für aktuelle schulische Herausforderungen im Bereich des digitalen Lernens zu entwickeln. Die hier entstehenden Lernumgebungen basieren auf verschiedenen Gestaltungsprinzipien mit dem Ziel, eine hohe Zugänglichkeit zu schaffen bei gleichzeitig attraktivem Design. So ist ein zentrales Element der Lerncomics die visuelle Aufbereitung: Anstelle abstrakter Erklärungen begleiten die Lernenden jeweils zwei Comicfiguren. Mit den Figuren Mika und Leo können beispielsweise Abenteuer rund um naturwissenschaftliche Phänomene verfolgt werden – in diesem Fall das Untersuchen der Aggregatzustände von Wasser sowie des Wasserkreislaufs (Abbildung 2). Alle Figuren des hier vorgestellten Comics wurden mit Bitmoji erstellt, einer kostenlosen App, mit der Avatare erstellt und in andere Apps eingefügt werden können. Die Hintergründe wurden mit der KI-Software Dall-E gestaltet.

Mika und Leo wurden als „pädagogische Agenten“ bewusst stereotyp-arm entwickelt – mit Frisuren, Outfits und Persönlichkeiten, in denen sich viele Schülerinnen und Schüler wiederfinden können. Dabei setzt das Storytelling nicht nur auf Unterhaltung, sondern vermittelt naturwissenschaftliche Inhalte in einem zusammenhängenden Erzählstrang. So begeben sich Leo und Mika in der Lernumgebung „Wasser“ auf einen Ausflug in den Wald. Dort werden sie von einem Regenschauer überrascht und flüchten in eine Hütte. Beim Blick auf die Regenwolken überlegt Mika, wie das Wasser in die Wolken kommt, um dann abzuregnen. Diese Überlegung nehmen die beiden pädagogischen Agenten als Ausgangspunkt für Experimente rund um den Wasserkreislauf.
Der Forschungskreislauf − didaktischer Doppeldecker

Um das Experimentieren und das Erlernen wissenschaftlicher Arbeitsweisen didaktisch zu verbinden, wurden die digitalen Lerncomics am Forschungskreislauf ausgerichtet. Dies dient zum einen als inhaltliches Gerüst, damit die Schülerinnen und Schüler das naturwissenschaftliche Forschen und Experimentieren nachvollziehen können. Zum anderen wird so auch das wissenschaftliche Arbeiten selbst vermittelt, was als didaktischer Doppeldecker bezeichnet wird (in Anlehnung an: Geißler, 1985; Wahl, 2002). Die Lernenden erfahren also nicht nur, was sie tun müssen, sondern auch, warum sie es tun. In dem hier vorgestellten Lerncomic begleiten die Schülerinnen und Schüler Mika und Leo, indem sie gemeinsam die Aggregatzustandsformen von Wasser (fest, flüssig, gasförmig; Abbildung 3) und deren Änderungen in zwei Forscheraufträgen und zwei realen Hands-on-Experimenten untersuchen. So lassen Mika und Leo zunächst Eiswürfel unter einer warmen Lampe schmelzen. In einem zweiten Versuch untersuchen sie das Verdampfen und Kondensieren, indem sie beobachten, wie heißes Wasser verdampft und dann an einem Glasdeckel kondensiert.
Am Ende werden die Erkenntnisse aus den Experimenten und der Lernumgebung zusammengefasst. Der Wasserkreislauf wird vorgestellt, aber auch der Kreislauf der Aggregatzustände schematisch zusammengefasst eingeblendet (Abbildung 4). Die Grafiken finden sich außerdem auf den analogen Handblättern wieder, welche die Schülerinnen und Schüler für einen Ordner oder ein Heft erhalten, so dass nach der digital-gestützten Experimentiereinheit die Inhalte im Unterricht aufgegriffen werden können.

Zugänglichkeit und Barrierefreiheit
Um allen Schülerinnen und Schülern Teilhabe am Experimentieren zu ermöglichen, ist die Entwicklung der digitalen Lerncomics an der Cognitive Load Theory of Multimedia Learning (CTML, z. B. Mayer, 2010, 2021; Moreno, 2005) orientiert. Die CTML beschreibt, wie multimedial aufbereitete Informationen im Gehirn verarbeitet werden und leitet daraus Hinweise ab, wie Lernmaterialien gestaltet werden sollten, um die Informationsaufnahme zu erleichtern. Deshalb achten wir unter anderem auf den sogenannten Signalling-Effekt, indem wir wichtige Informationen farblich oder symbolisch hervorheben und zusammengehörende Informationen durch die gleiche Farbe markieren. Zudem vermeiden wir den Split-Attention-Effekt, indem zusammengehörige Inhalte gemeinsam und in räumlicher Nähe zueinander dargestellt werden. Dadurch wird die kognitive Belastung, also die mentale Anstrengung die das Arbeitsgedächtnis beim Lernen beansprucht, reduziert (CLT, z. B. Plass et al., 2010; Sweller et al., 1998, 2011), sodass sich die Schülerinnen und Schüler voll auf das Experimentieren und Verstehen der naturwissenschaftlichen Inhalte konzentrieren können und nicht durch eine zu komplexe Informationsdarbietung behindert werden.
Um den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden, beinhalten die digitalen Comics mehrere Zugangswege und Unterstützungsmechanismen (Abbildung 5):
- Text-Bild-Kombinationen für ein leichteres Verständnis durch mehrere Aufnahmewege,
- Audio-Elemente für Schülerinnen und Schüler mit Leseschwierigkeiten oder Sprachbarrieren,
- interaktive Aufgaben (z. B. kleine Videos, Sprachnachrichten) zur Förderung von selbstgesteuertem, aber auch kooperativem Lernen und zur kognitiven Aktivierung,
- die Möglichkeit bei Bedarf die Inhalte in eine andere Sprache zu übersetzten – so können zum Beispiel alle Schülerinnen und Schüler Texte selbstständig verstehen und sich dann darüber austauschen.
Auch zeichnen sich die Lerncomics dadurch aus, dass sie das selbstständige Erkunden naturwissenschaftlicher Phänomene unterstützen, indem die Lernenden entsprechend ihren Voraussetzungen und in ihrem eigenen Lerntempo in Einzel- oder Partnerarbeit durch den Experimentierprozess geführt werden, während die Lehrkraft als Lernbegleitung fungiert und die Schülerinnen und Schüler individuell unterstützen kann. Es zeigt sich, dass verschiedene mediale Elemente wie Sprachnachrichten, Videos und vertonte Texte die Aufnahme der Inhalte und die Dokumentation von Beobachtungen unterstützt. Gezielte Aufgabenstellungen regen die kognitive Aktivierung an.

Fazit
Die im Rahmen einer Professionellen Lerngemeinschaft an der PH Freiburg entstandenen Lerncomics zum naturwissenschaftlichen Experimentieren vereinen anschauliche Visualisierungen mit interaktiven Elementen sowie eine inklusive Gestaltung. Bei der Entwicklung der Lernumgebung stand die leichte Zugänglichkeit im Vordergrund, sodass Schülerinnen und Schüler zum eigenständigen Experimentieren motiviert werden. Zugleich werden Lehrkräfte dabei unterstützt, den naturwissenschaftlichen Unterricht praxisnah und digital angereichert zu gestalten. Dank Storytelling, barrierearmem Design und einer digitalen Umsetzung lässt sich Scientific Literacy effektiv fördern und Teilhabe am Experimentieren ermöglichen. Erste Untersuchungen (Graichen et al., 2024) zeigen die Lernwirksamkeit auf und deuten auf positive Entwickelungen im Selbstkonzept der Schülerinnen und Schüler hin. Die stereotypfreien Darstellungen fördern dabei sowohl Mädchen als auch Jungen. Die möglichst barrierefreie Gestaltung unterstützt Schülerinnen und Schüler mit ungünstigeren Lernvoraussetzungen. In enger Zusammenarbeit mit Lehrkräften wurden die Lerncomics so gestaltet, dass sie gut in die Praxis integrierbar sind und damit das naturwissenschaftliche Experimentieren für alle Beteiligten attraktiv und erfolgreich gestalten. Wenn Sie Teil unserer PLG werden oder die Lernumgebungen ausprobieren möchten, können Sie sich gerne an uns wenden (Kontakt: martina.graichen@ph-freiburg.de). Es entstehen im Rahmen dieses Projektes keinerlei Kosten für teilnehmende Lehrkräfte. Die technische Ausrüstung (iPads mit den Lerncomics) sowie die Experimentiermaterialien können durch die Hochschule gestellt werden.
Über die Autorinnen
Prof. Dr. Silke Mikelskis-Seifert ist Professorin für Physik und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Ihre Forschungsthemen und -interessen umfassen die Professionalisierung von Lehrkräften, sowie die Erforschung des professionellen Wissens von Lehrkräften während der PLG-Arbeit, das Erlernen wissenschaftlicher Arbeitsmethoden, digitales Lernen und den Umgang mit Vielfalt. Silke Mikelskis-Seifert arbeitet an einer Vielzahl von Projekten in interdisziplinären Teams und forscht im Rahmen von Promotionsstudiengängen.
Dr. Martina Graichen ist Lehrerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Physik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Dort beschäftigt sie sich mit der Professionalisierung von Lehrkräften und der Entwicklung von modernen Lernumgebungen über digitale Medien sowie mit barrierefreiem und adaptivem Unterricht mit heterogenen Lerngruppen. Zur Unterstützung der Lehrkräfte beim Einsatz digitalen Medien, setzt sie auf einen Austausch auf Augenhöhe. Mit Hilfe von Professionellen Lerngemeinschaften können sowohl die Lernumgebungen weiterentwickelt werden, als auch die beteiligten Lehrkräfte ihren eigenen Unterricht ausbauen.
Das Projekt

Am MINT-ProNeD-Standort Freiburg arbeitet die Abteilung Physik der PH Freiburg mit viel Begeisterung mit Lehrkräften im Sachunterricht zusammen. Das Ziel ist, das Experimentieren im naturwissenschaftlichen Sachunterricht mit digitalen Lernumgebungen auf ein neues Level zu heben. Dabei wird auf bewährte digitale Lernumgebungen aus einem vorherigen Projekt zurückgegriffen und diese werden kontinuierlich weiterentwickelt.
Im Fokus stehen drei zentrale Aspekte: die Lehrkräfte, die Schülerinnen und Schüler sowie die digitalen Lernumgebungen selbst. Die Schülerinnen und Schüler entdecken die Inhalte weitgehend selbstständig – mit Tablets oder iPads in der Hand und Hands-on-Experimenten direkt im Klassenzimmer. So werden die Vorteile digitaler Medien mit klassischem Experimentieren kombiniert, um die experimentale, naturwissenschaftliche Kompetenz, aber auch die Selbstständigkeit der Schülerinnen und Schülern zu fördern. Die Lernumgebungen werden fortlaufend auf Grundlage des Feedbacks von Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern weiterentwickelt.
