Transkript zu „Zukunftstechnologie trifft Didaktik – Wie künstliche Intelligenz Lehrkräfte unterstützt und Lernen individualisiert“
Hier finden Sie das Transkript zum Interview mit dem Physikdidaktiker Prof. Dr. Jochen Kuhn von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Für die bessere Lesbarkeit wurden sprachliche Glättungen vorgenommen.
Tamara Schilling: Willkommen bei „schule-mal-digital.de“. Heute sprechen wir über den Umgang mit der zunehmenden Heterogenität im Klassenzimmer und welche Rolle Zukunftstechnologien wie künstliche Intelligenz dabei spielen können. Thematischer Fokus liegt dabei auf dem naturwissenschaftlichen Unterricht. Ich bin Tamara Schilling vom Leibniz-Institut für Wissensmedien in Tübingen und als Gast ist heute Prof. Dr. Jochen Kuhn von der LMU München bei mir. Schön, dass Sie da sind.
Jochen Kuhn: Hallo Frau Schilling.
Tamara Schilling: Herr Kuhn, seit 2022 leiten Sie den Lehrstuhl für Didaktik der Physik an der LMU in München und beschäftigen sich mit dem Lernen und Problemlösen mit Hilfe von Zukunftstechnologien. Ein Schwerpunkt Ihrer Forschung liegt dabei auf dem Lehren und Lernen mit, aber auch über KI in den MINT-Fächern sowie auf der Nutzung von Messverfahren zur Analyse von Lernprozessen. Genau darüber möchten wir heute sprechen. Bevor wir konkret auf unser Thema eingehen, möchte ich etwas Grundlegendes klären: Nämlich spätestens seit dem Start von ChatGPT im November 2022 ist künstliche Intelligenz in aller Munde. Viele Menschen, darunter auch Lehrkräfte, haben bereits erste Erfahrungen mit KI gemacht und diskutieren über ihren Einfluss auf das Alltagsgeschäft. Doch KI ist ja nicht gleich KI und damit wir eine gemeinsame Grundlage in unserem Gespräch haben, erklären Sie uns doch kurz: Welche Art von KI setzen Sie in Ihrer Forschung ein? Und wie unterscheidet sie sich von anderen KI-Systemen? Und warum arbeiten Sie genau mit dieser Art von KI?
Jochen Kuhn: Ja, sehr gerne. Vielen Dank für die Einleitungsfrage. Im Bildungsbereich ist künstliche Intelligenz nicht neu − sie hat jahrzehntelange Tradition. Und wir arbeiten ja auch schon seit fast zehn Jahren mit künstlicher Intelligenz (KI) oder überlegen, wie wir diese zum Lehren und zum Lernen einsetzen können. Man kann jetzt grob verschiedene Verfahren unterscheiden. Zum einen Verfahren von KI, die eher prädiktiven Charakter haben, oder auch klassifizierenden Charakter. Und zum anderen Verfahren von künstlicher Intelligenz, die generativen Charakter haben, vor allem basierend auf großen Sprachmodellen, sozusagen Large Language Models. Bleiben wir mal bei dem ersten Bereich. Der erste Bereich würde heißen, Sie erfassen eine große Datenmenge und suchen in dieser Datenmenge nach Mustern, mit denen Sie Verfahren trainieren können, um Vorhersagen zu treffen auf eine bestimmte Variable, zum Beispiel Lernerfolg. Das heißt, Sie haben noch keine Daten. Sie nehmen Daten auf und gucken in diesen erhobenen Daten nach Mustern, wie ich gerade beschrieben habe. Wir haben das gemacht und machen das immer noch mit Blickdaten. Das heißt also, wir analysieren Blickdaten, die bei Lernenden aufgenommen werden, beim Lernen und beim Problemlösen und schauen, in welcher Weise dort charakteristische Blickmuster auftreten, mit denen wir Lernerfolg vorhersagen können. Die zweite Gruppe wird so im Alltag momentan, seit 2022, als die KI bezeichnet und dann vielleicht noch schlimmer als ChatGPT, in dem ganzen Bereich generativer künstlicher Intelligenz, die letztlich mit großen Sprachmodeln im Hintergrund zusammenhängen. Da werden keine eigenen Daten zunächst aufgenommen, sondern die Eingaben greifen auf einen Datenkorpus zurück, der textbasiert ist. Und dieser Datenkorpus, der irgendwo herkommt − bei ChatGPT sind große Datenmengen aus dem Web − gibt dann aufgrund von dem Sprachmodell, das dementsprechend hinterlegt wird, auch diesbezügliche Antworten. Das heißt, es wird eine Antwort erzeugt. Das sind so im Groben, wenn man das vereinfacht darstellen möchte, diese zwei, die in der Bildung häufig zum Tragen kommen.
Tamara Schilling: Vielen Dank erstmal für diesen Einblick in die beiden verschiedenen Arten von KI. Dann lassen Sie uns nun den Blick auf die Schulpraxis richten und damit, was unser heutiges Thema ist: Und zwar ein zentraler Aspekt der heutigen Unterrichtsgestaltung ist die zunehmende Heterogenität im Klassenzimmer. Damit geht ja eine große Herausforderung im naturwissenschaftlichen Unterricht einher. Und hier stellt sich erstmal die Frage: Was bedeutet eigentlich Heterogenität im naturwissenschaftlichen Unterricht? Wie zeigt sie sich hier? Und welche besonderen Herausforderungen muss man hier denn berücksichtigen?
Jochen Kuhn: Tatsächlich gibt es Heterogenität schon seit immer. Im Prinzip heißt es nur, dass die Schülerinnen und Schüler nicht als „unbelastete“ Lernende zu uns in den Unterricht kommen, sondern sie bringen einen Rucksack von Erfahrungen mit, von Präferenzen hinsichtlich Merkmalen, wie Leistungslevel. Aber auch soziale Herkunft, kultureller Hintergrund, Sprachkenntnisse. Wenn man beim MINT-Bereich bleibt, auch von Interessen. Das ist gerade im MINT-Bereich, neben den unterschiedlichen Vorkenntnissen, auch ein wesentlicher Faktor, dass hier bei den Interessen eine ganz große Bandbreite existiert, die auch unter anderem eine Geschlechterthematik mit sich bringt. Das heißt, bei einem Thema sind vielleicht eher Mädchen stärker interessiert wie Jungs und umgekehrt. Auch das muss man unter dem Bereich Heterogenität mit zusammenfassen. Beispielsweise 7. oder 8. Klasse Strahlenoptik beim Thema: Wie wird Licht durch Glas gebrochen? Das kann man sehr nüchtern darstellen, indem man zeigt, dass sich das Licht bündelt hinter der Linse, wenn es eine Sammellinse ist. Und dann ist die Frage, wo findet das Konzept im Alltag statt? Dann ist es beispielsweise für die Mädchen interessant, im Biologie-Kontext, wie wir sehen. Wie wird die Umgebung durch unsere Augenlinse auf unserer Netzhaut abgebildet? Und bei den Schülern beispielsweise: Wie wird beim Scheinwerfer eines Autos aus einem Lichtpunkt ein paralleles Lichtbündel erzeugt? Also, bei Schülern eher ein technisches Interesse, bei Mädchen eher die Bereiche Biologie, Medizin. Und wenn man dann jetzt auf generativer KI hier einsteigen möchte, dann ist es natürlich eine Riesenchance, beispielsweise einem Sprachmodell zu sagen: Gib den Schülerinnen und Schülern verschiedene Arten von Hinweisen. Oder auch: Zeig ihnen mal, in welcher Weise der Lerninhalt von Bedeutung auch tatsächlich ist.
Tamara Schilling: Vielen Dank für diese Veranschaulichung. Das macht schon mal klar, dass es hier unterschiedliche Voraussetzungen gibt, die man einfach berücksichtigen muss, auch als Lehrkraft. Und Sie haben es auch schon angedeutet: Heterogenität gibt es nicht erst seit gestern, sondern da war man eigentlich schon immer mit konfrontiert. Und neben didaktischen Konzepten und differenzierten Unterrichtsmaterialien, gewinnt jetzt auch KI zunehmend an Bedeutung, um die Gestaltung individueller Lernwege zu unterstützen. Wie können denn solche Technologien dabei helfen, mit unterschiedlichen Anforderungen besser umzugehen?
Jochen Kuhn: Wenn man erstmal allgemeiner sprechen möchte, dann gibt es verschiedene pädagogische Ziele zum Einsatz von KI. Das ist zum einen natürlich, dass die Individualisierung des Lernens viel besser möglich ist. Durch unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten kann die KI unterschiedliche Unterstützungsmaßnahmen bereitstellen. Sie kann durch unterschiedliche extrinsische Inputs auch Selbstregulationsmaßnahmen fördern. Beispielsweise, wenn der Chatbot die Schülerinnen und Schüler darauf hinweist, welche Bedeutung ihr Lerninhalt hat, zum Beispiel im Alltag oder auch in unterschiedlichen Kontexten. Aber auch wenn der Chatbot die Schülerinnen und Schüler auffordert: Erkläre es mir, was du gerade gelernt hast, wie wenn ich deine elfjährige Schwester wäre. Also nochmal: Externalisieren des Wissens in der Kommunikationsform als pädagogisches Ziel. Natürlich kann generative KI beispielsweise zur Diagnose verwendet werden. Also wenn Lehrkräfte beispielsweise einen Text von einer Schülerin oder einem Schüler erhalten haben, können sie ihn scannen und hochladen und auch korrigieren lassen. Auch hier ist Vorsicht geboten. Ich kenne, stand heute, tatsächlich kein Tool, was das fehlerfrei macht. Von daher sagen wir immer: Vorkorrektur ist okay. Eine Endkorrektur darf man sich durch solche Tools noch nicht erhoffen und würde ich auch in Zukunft nicht erhoffen, weil immer der Mensch in dem Ganzen dabei bleiben muss, um letztlich auch nochmal zu prüfen, was eigentlich die KI ausgibt. Super spannend, sind gerade die MINT-Fächer, weil die MINT-Fächer meines Erachtens nochmal vielfältigere Möglichkeiten bieten, um solche Tools auch einsetzen zu können – zum Beispiel als interaktiver Tutor für Erklärungen und individuelle Hilfestellungen. Beispielsweise im MINT-Bereich können Schülerinnen und Schüler Fragen zu Matheaufgaben oder physikalische Konzepte stellen. Natürlich erwartet man sich da eine Verständnisförderung durch eine individualisierte Bereitstellung von Erklärungen und durch ein Feedback in vielleicht vereinfachter Sprache. Auch hier je nach persönlicher oder individueller Prädisposition der Lernenden. Für die Lehrkraft ist es auch super: Man kann Übungsaufgaben oder Tests erstmal erstellen lassen. Auch hier gilt aber: Bitte nicht erwarten, dass es die perfekten Aufgaben gibt – weil die Lehrkraft natürlich immer noch sehr speziell auf ihren Unterricht zugeschnittene verschiedene Formate oder Inhalte von Aufgaben präferieren würde. Aber der Chatbot gibt mal einen ersten Vorschlag, stellt Musterlösungen bereit oder schlägt verschiedene Aufgaben für unterschiedliche Kompetenzbereiche vor. All das würde ich immer sehen als erste Idee, die man als Lehrkraft bekommt. Manche kann man vielleicht sogar eins zu eins einsetzen. Viele wird man noch anpassen – erstmal eine Idee zu bekommen, in der Vielfalt, die man per se immer sich ausdenken müsste. Wenn man sich vorstellt, es sind 30 Schülerinnen und Schüler vor einem und man muss dann passend für die jeweiligen Lernenden das Passende rausholen, ist eine Idee schon mal sehr viel wert. Was ich auch noch super finde, MINT oder Naturwissenschaften, da ist das Kernelement das Experiment. Was beim Experiment auch immer ein Problem ist, sobald sie Phänomene aus dem Alltag in den Unterricht reinholen wollen, speziell in der Sekundarstufe 1 oder 2, muss man immer simplifizieren, weil die Vorgänge im Alltag per se komplex sind. Also wenn sie ein Auto fahren, ist immer Reibung, Luftwiderstand und so weiter mir dabei. Das sind alles Themen, die sie in der Sekundarstufe 1, zum Großteil in der Sekundarstufe 2 auch nicht tun können. Und wenn Sie zum Beispiel Daten aufnehmen von einem alltäglichen Prozess, was man immer haben möchte, den Anwendungsbezug, wird es superschwer, die Schülerinnen und Schüler dieses Experiment auch auswerten zu lassen. Dabei kann generative KI helfen. Sie können beispielsweise einen aufgenommenen Datensatz, den Sie im Alltag aufgenommen haben, können Sie den Schülern übergeben und sie mithilfe von − exemplarisch ChatGPT − auswerten lassen, ein Diagramm erstellen, verschiedene Arten von Diagrammen ineinander überführen. Das heißt, es bietet wirklich Lernmöglichkeiten, die vorher nicht möglich waren. Schülerinnen und Schüler müssen natürlich wissen, nicht nur wie sie was auswerten, sondern auch kritisch einschätzen, wie das Ergebnis von der generativen KI zurückgegeben wird, kann das überhaupt fachlich stimmen. Und wenn es nicht stimmt, woran liegt es? Hier bieten sich exzellente Möglichkeiten gerade das Lernen über KI anzutriggern. Man weiß sehr gut, wie ein Bewegungsvorgang aussehen müsste. Wenn dann die generative KI ein Diagramm erstellt, was nicht sein kann, also ein Diagramm erstellt, wo ein Bewegungsvorgang dargestellt ist, der mit den physikalischen Gesetzmäßigkeiten nicht vereinbar ist, kann man natürlich sehr gut darüber nachdenken, ist das jetzt ein Fehler der Physik? Ist es jetzt vielleicht ein Fehler der generativen KI? Und wenn ja, warum? Auch hier bietet es sehr schöne Lerngelegenheiten, mit den Schülern und Schülerinnen darüber zu sprechen, wo sind denn die Grenzen von dem Tool, das sie nutzen. Wir wissen, dass die Schülerinnen und Schüler sehr häufig ChatGPT nutzen und ganz unterschiedliche Interaktionsformen verwenden. Und eine entscheidende Herausforderung, eine wichtige Aufgabe für die Schule wird sein, dass wir unserer kommenden Generation frühzeitig beibringen, reflexiv mit diesen Tools umzugehen. Da bieten die MINT-Fächer sehr gute Gelegenheiten, weil man häufig Gesetzmäßigkeiten hat, die man mit dem Ergebnis von KI vergleichen kann.
Tamara Schilling: Sie haben jetzt hier schon einen wunderbaren Einblick gegeben, in was für Lernbereichen und Lernsituationen KI in den MINT-Fächern besonders sinnvoll sein kann und wie Sie den Lernzuwachs bei Schülerinnen und Schülern damit fördern können. Bleiben wir mal bei den Schülerinnen und Schülern. Da stellt sich natürlich auch die Frage: Welche Schülergruppen profitieren besonders von KI und solchen Technologien?
Jochen Kuhn: Zum einen wird man sofort sagen: Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten. Aus meiner Sicht ist das immer die erste Gruppe, auf die man bei dem Lernen mit KI kommt, wenn man dazu gefragt wird. Und es stimmt auch: adaptive Systeme, verschiedene Arten von Feedback, die solche Tools geben können. Natürlich sind für solche Schülerinnen und Schüler solche Tools gut geeignet. Aber eben nicht nur, sondern gerade auch für Schülerinnen und Schüler, die hochbegabt sind, weil solche Tools eben auch Möglichkeiten zum Weiterlernen zeigen, weitere Lernanlässe geben, wenn die Schülerinnen und Schüler schneller sind als ihre Mitschülerinnen und -schüler in der Klasse. Eine weitere Gruppe in heutiger Zeit: Für Schülerinnen und Schüler mit nicht deutscher Erstsprache können solche Tools gut verwendet werden, dass sie nicht zurückbleiben, sondern eben auch in ihrem individuellen Lernprozess an Bildung teilnehmen können − also mit Übersetzungen oder Sprachtrainingsprogrammen. Und last but not least auch für Schülerinnen und Schüler mit besonderen Bedürfnissen. Also für die Bereitstellung von barrierefreien Lernmaterialien, oder auch alternativen Kommunikationsmöglichkeiten. Beispielsweise können Sie auch von einem Chatbot ein Audio-File erstellen lassen.
Tamara Schilling: Wie kann man denn bei dem Einsatz von KI gewährleisten, dass man nicht neue Hürden durch die Technologie selbst aufbaut, weil das ist ja durchaus ein Aspekt, der auch zur Überforderung führen kann?
Jochen Kuhn: Es ist ja auch die Frage des didaktischen Orts und des pädagogisch-didaktischen Ziels oder auch des Konzepts, das dahintersteckt. Bleiben wir mal beim Diagramm, wenn ChatGPT das erzeugen kann. Das macht nur dann Sinn, wenn die Schülerinnen und Schüler schon selbst fähig sind, solche Diagramme zu erstellen. Wenn sie das nicht können, dann können sie auch gar nicht einschätzen, ob das richtig oder falsch ist. Das heißt, es gibt immer noch wesentliche Aufgaben, die die Schülerinnen und Schüler selbst tun sollten. Es wird in den Klassen dann Schülerinnen und Schüler geben, die noch nicht so viel geübt haben beim Erstellen von Diagrammen und darum erstmal Schritt für Schritt diese Kompetenz erwerben müssen. Das passiert im Sinne von, ich zeichne es per Hand. Aber es wird auch die Schüler geben, die schon fünf oder sechs Diagramme erstellt haben und dann gelangweilt wären, wenn sie noch mal ein anderes Diagramm erstellen. Dann können sie viel mehr auf den Bereich zurückgreifen: Ich habe verschiedene Tabellen, die mir digital vorliegen und ich möchte die Diagramme interpretieren. Was ist eigentlich die Physik dahinter? Vielleicht überführe ich sie auch noch mal in eine andere Form, zum Beispiel in eine Formel. Auch das wieder zu reflektieren, das heißt also die Schülerinnen und Schüler dazu befähigen, selbst einschätzen zu können, wann ist es geeignet, welches Tool zu verwenden. Und das Tool kann entweder der Bleistift oder der Füller sein oder eine App oder ein Computer oder GPT. Aber die Schülerinnen und Schüler und auch wir Lehrkräfte müssen in die Lage versetzt werden, solche Einschätzungen vornehmen zu können. Jetzt spreche ich auch speziell die Lehrkräfte selbst an, weil das natürlich eine notwendige Voraussetzung ist, damit Lehrkräfte auch entscheiden können, welches Medium setze ich denn morgen in meinem Unterricht ein? Was nehme ich jetzt zum Planen? Nutze ich ChatGPT für meine Testaufgaben zu erstellen und drucke das Papier aus und gebe es den Schülerinnen und Schülern, oder gebe ich es digital und nutze das Feedback noch von ChatGPT, wo die Schüler dann online mit den Aufgaben arbeiten. Das hängt immer vom pädagogisch-didaktischen Ziel und auch von der Fähigkeit ab, in welcher Weise Lehrkräfte selbst in der Lage sind, a) Einsatzzwecke der Tools einzuschätzen und b) solche Tools zu verwenden.
Tamara Schilling: Auf jeden Fall ein wichtiger Punkt. In den digitalen Lernumgebungen oder auch in den adaptiven Lernumgebungen sind die KI-basierten Funktionen nicht immer offensichtlich erkennbar. Wenn man nicht weiß, worauf man achten muss, erkennt man einfach nicht, dass da eine KI irgendwo im Hintergrund arbeitet. Welche grundlegenden Informationen sollten Schülerinnen und Schüler über solche Systeme haben, bevor man sie als Lehrkraft im Unterricht einsetzt?
Jochen Kuhn: Erstens: Wenn ich jetzt bei der generativen KI bleibe und so davon ausgehe, dass die Schülerinnen und Schüler irgendein Programm nutzen, das auf ein Sprachmodell zurückgreift, dann ist es schon mal wichtig, den Schülern das zu sagen. Dann auch zu sagen: Was hat es für Folgen für Datenschutz und für ethische Konsequenzen? Zum Beispiel, auch wenn es heutzutage DGSVO-konforme Einsätze gibt, mit denen man Sprachmodelle ansteuern kann, ist es immer noch so, dass wenn die Schülerinnen und Schüler individuelle Daten eingeben, dass diese Daten auch weitergegeben werden. Es sei denn, das Programm hat einen Schutz, der auch solche Eingaben kontrolliert. Was steckt dahinter? Ist es eine KI? Wo gehen die Daten eigentlich hin? Wer hat Einsicht auf meine Daten? Sie müssen selbst entscheiden dürfen, ob sie das tun wollen oder nicht. Dann auch davon abhängig, wie tief man in diese Thematik einsteigt, dass es Unterschiede gibt, ob sie zu Hause das Webinterface von ChatGPT nutzen oder ob sie in ihrem Unterricht ein Tool nutzen, das auf das Sprachmodell von ChatGPT zurückgreift. Auch das macht einen Riesenunterschied.
Tamara Schilling: Ja, ist auf jeden Fall ein sehr spannendes Feld, auch wie sich das jetzt weiterentwickelt mit den ethischen Vorgaben und der DSGVO, dass das im Unterricht eingesetzt werden kann. Da müssen wir wohl auch jetzt abwarten, was auf uns zukommt. Dennoch können wir mal einen Blick auf die allgemeinen Rahmenbedingungen werfen, wenn man sich überlegt als Lehrkraft den Einsatz von KI im eigenen Unterricht umsetzen zu wollen. Aus Ihrer Erfahrung heraus: Welche Rahmenbedingungen müssen denn geschaffen werden, damit der Einsatz von KI im MINT-Unterricht erfolgreich sein kann?
Jochen Kuhn: Also, das Erste ist natürlich: Die Technik muss vorhanden sein. Da würde ich jetzt heutzutage sagen, sie müssen ein WLAN-fähiges, digitales Endgerät haben, sei es Computer, Notebook, Tablet. Wenn die Schule auch Smartphones zulässt, geht es auch mit Smartphone. Natürlich muss die WiFi-Verbindung gegeben sein. Ohne das funktioniert es nicht wirklich. Das Zweite ist, und das ist aus meiner Sicht mindestens genauso wichtig, dass es didaktische Konzepte geben muss, um solche Tools auch effektiv, effizient und lernwirksam in den Unterricht einsetzen zu können. Das ist sehr wichtig, weil darauf basierend kommt dann das Dritte: Lehrkräfte fortbilden. Einer der wichtigsten Faktoren ist eben die Selbsteinschätzung der Lehrkräfte, wie gut sie sich vertraut fühlen mit dem Einsatz von solchen Technologien. Das gilt nicht nur für KI, das gilt per se für den Einsatz von digitalen Medien. Und last but not least, die Frage des Datenschutzes und der Ethik, die gerade in dem Bereich von Bildung, laut EU, als Hochrisikodaten gilt, also vergleichbar mit medizinischen Anwendungen. Und das ist natürlich auch richtig. Es sind sensible Daten. Es sind Lernende, die einen Schutzraum haben. Und da müssen wir auch immer die Antwort: Ja, das ist wichtig, aber wir brauchen Lösungen, dass das kein Hinderungsgrund ist, um mit Lernenden solche Tools auch nutzen zu können. Ich sage immer, ich möchte kein Nein, sondern ich möchte ein Wie. Die Frage ist nicht, ob man diese Tools, diese Technologie einsetzt, sondern ich möchte wissen, wie man diese einsetzt, weil ich glaube uns allen ist auch klar, das Phänomen wird nicht mehr aus unserem Alltag verschwinden. Das wird dauerhaft bleiben. Und es wird mit einer hohen Wahrscheinlichkeit mit einer hohen Dynamik voranschreiten. Und umso wichtiger, wird es eine extrem wichtige Kompetenz für unsere zukünftige Generation sein und speziell auch für die jungen Menschen frühzeitig dafür fit gemacht zu werden. Da hängt es auch davon ab, dass wir von der Lehr-Lernforschung die didaktischen Konzepte, die ich gerade genannt habe, auch entwickeln, aber auch begleitforschen, welche der vermeintlich erfolgreichen didaktischen Konzepte, unter welchen Bedingungen auch wirklich erfolgreich sind.
Tamara Schilling: Ich greife mal ein Aspekt von diesen „Wies“ auf, die Sie gerade aufgemacht haben: Nämlich wie können Lehrkräfte auf den Einsatz dieser Technologien vorbereitet werden, ohne dass es mit einer Überlastung oder Überforderung mit dem Einsatz von KI-Technologien und der Umsetzung von adaptiven Lernmöglichkeiten einhergeht?
Jochen Kuhn: Zunächst mal kann man ihnen klar sagen: Sie brauchen nicht um jeden Preis KI zu verwenden. Und auch nicht für jeden Arbeitsschritt. Und auch nicht für jede Aufgabe, die sie sonst ohne KI gemacht haben. Sondern man soll ihnen für Arbeiten, die sie vielleicht morgen direkt verwenden können, für die sie vielleicht heute Nachmittag zwei Stunden brauchen, einmal exemplarisch zeigen, wie so ein Tool helfen kann. Und dann müssen Lehrkräfte selbst ins Tun kommen. Das heißt also, sie sollen selbst ausprobieren, wie sie mit so einem Tool sich selbst entlasten können. Das kann erstmal für den Einstieg bei der Unterrichtsvorbereitung sein. Wenn ich Übungsaufgaben mache für meine Studierenden, lasse ich mir auch erstmal ein paar Aufgaben vorschlagen zur Fehlvorstellung. Das kann man ChatGPT oder anderen Sprachmodellen sagen: Entwickeln wir mal fünf Aufgaben zu einem bestimmten Fehlkonzept in der Physik und deren Lösung. Und dann kommen Vorschläge, die passen bestimmt nicht eins zu eins, aber ich kann damit weiterarbeiten und kann es adaptieren. Da hätte ich normalerweise heute Nachmittag vielleicht eine Stunde dafür gebraucht und brauche wahrscheinlich nur eine halbe dafür. Und solche Bausteine zusammenzufinden, wo sich die Lehrkraft selbst erstmal, im ersten Schritt, kompetent macht, wie solche Tools für einen Mehrwert für ihre eigene pädagogisch-didaktische Arbeit sind. Und wenn sie dieses Know-how haben, kommt, wie kann ich didaktische Konzepte damit entwickeln, um auch den Unterricht zu gestalten. Das wäre der zweite Schritt. Und als nächster Schritt wäre dann auch noch, lasse ich Schülerinnen und Schülern unter Anleitung und mit dem didaktischen Konzept auch selbst so ein Tool verwenden. Und das setzt natürlich auch voraus, dass sie einen groben Überblick von diesen Tools haben. Sie brauchen nicht die Übersicht zu haben über alle Tools. Das ist auch überhaupt nicht möglich, so viele Tools wie tagtäglich aus dem Boden sprießen. Aber von den gängigen und grundsätzlich auch positiv eingeschätzten Tools – das sind vielleicht drei, vier, fünf, vielleicht auch sechs. Da bin ich fest davon überzeugt, es wird so, wie das bei dem Computer ist. Da kenne ich meine drei, vier Tools, die ich gut für meine Arbeit verwenden kann. Also am Ende des Tages wird es sicherlich in fünf bis zehn Jahren so sein, dass solche Tools wie ChatGPT oder große Sprachmodelle oder Programme oder Applikationen, die damit arbeiten, ein alltägliches Phänomen sein werden.
Tamara Schilling: Ja, in dieser Dynamik, da schwingt ja häufig auch so ein bisschen eine Sorge mit, dass irgendwann die KI-Lehrkraft im Klassenzimmer stehen wird und gar nicht mehr die normale Lehrkraft. Wie kann man jetzigen Lehrkräften oder auch zukünftigen die Sorge nehmen, dass das passieren wird?
Jochen Kuhn: Zum einen würde ich immer sagen, die Lehrkraft spielt in dem ganzen Prozess eine wesentliche Rolle. Und es ist glaube ich auch immer von Anfang an klarzustellen, dass es nicht entweder um KI oder Lehrkraft geht, sondern die KI als Support, als Unterstützung von der Lehrkraft zu sehen ist − und die Lehrkraft auch durch Abgeben von manchen Aufgaben an die KI entlastet, aber eben auch nicht komplett rausgenommen werden kann aus dem Lernprozess. Das heißt also, am Ende des Tages ist es immer noch wichtig, dass die Lehrkraft selbst hinter den Schülern steht und draufschaut, ob die Interaktion mit den Chatbots pädagogisch sinnvoll ist. Und zum anderen gibt es natürlich auch technologische Möglichkeiten, wo man solche Sprachmodelle „an die Kette legen“ kann: Also, es gibt beispielsweise Lerntools, wo man auch die korrekte Antwort eingeben kann und das Feedback oder die Antwort von dem KI-System an die Schülerinnen und Schüler erst dann weitergibt, wenn sie auch kohärent zu der Eingabe der von der Lehrkraft eingegebenen korrekten Antwort ist. So vermeidet man eben Halluzinationen. Und das ist natürlich dramatisch, wenn man in dem, ich sage es mal, in einem freien Webinterface von ChatGPT arbeitet, das kann man natürlich in der Form nicht wirklich ausschließen. Außerdem ist Lernen und Schule mehr als Interaktion mit einem Lernmaterial. Es hat auch was mit sozialer Interaktion zu tun. Wir müssen den Schülerinnen und Schülern viel mehr beibringen. Wir leben den Schülerinnen und Schülern Werte vor. Ja, es geht um wirklich menschliche Interaktion. Und es gibt mittlerweile auch Trends, wo man versucht, Avatare durch generative KI zu entwickeln, sodass sich Chatbots nicht mehr als Text, sondern auch als Avatare darstellen. Da zeigt übrigens die Forschung, dass die affektive Verbindung zwischen Avatar und Mensch, nicht in der Form sein kann, wie das tatsächlich mit der humanen Lehrkraft ist. Und es ist ja auch so, dass die Kompetenzen die KI nicht zur Verfügung stellen kann, zumindest nicht, wie wir uns das vorstellen, hinsichtlich Kreativität, hinsichtlich Emotionen.
Tamara Schilling: Gibt es von Ihrer Seite aus vielleicht noch einen Punkt, wo Sie sagen: Oh, den konnte ich jetzt noch gar nicht ansprechen, den würde ich jetzt gerne noch anbringen?
Jochen Kuhn: Also, es wird nicht alles besser mit KI. Aber ohne KI verspielt man sich Möglichkeiten, die man für sein pädagogisch-didaktisches Handeln durchaus auch erfolgreich einsetzen kann und auch sich selbst entlastet. Und die Möglichkeiten, die damit einfach einhergehen, sind vielfältig. Und um diese tatsächlich zu sehen, muss man einfach selbst mal anfangen. Und da reichen schon kleine Schritte.
Tamara Schilling: Das ist doch ein schönes Schlusswort. Vielen Dank für Ihre Zeit, Herr Kuhn.
Dieses Transkript gehört zum Interview Zukunftstechnologie trifft Didaktik – Wie künstliche Intelligenz Lehrkräfte unterstützt und Lernen individualisiert.