Transkript zu „Historisch! Wenn Schülerinnen und Schüler geschichtliche Orte mit Virtual Reality erkunden“
Hier finden Sie das Transkript zum Interview mit den Geschichtsdidaktikern Prof. Dr. Christian Kuchler und Kristopher Muckel von der Universität Augsburg. Für die bessere Lesbarkeit wurden sprachliche Glättungen vorgenommen.
Gabriele Irle: Im Rahmen des Zukunftsraums auf lernen:digital blicken wir heute auf die Zukunft des Schulfachs Geschichte. Wie wird es sich wohl wandeln in einer digitalen Welt? Ich bin Gabriele Irle vom Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM) in Tübingen und ich heiße unsere beiden Gäste heute ganz herzlich willkommen – zum einen Professor Christian Kuchler –
Christian Kuchler: Hallo.
Gabriele Irle: und Kristopher Muckel, herzlich willkommen!
Kristopher Muckel: Hallo.
Gabriele Irle: Ja, wir freuen uns, dass Sie da sind und Sie sind beide an der Universität Augsburg tätig, genauer in der Geschichtsdidaktik und beschäftigen sich dort mit dem Einsatz von VR, AR im Schulunterricht. VR, AR verwenden wir für Virtual Reality und Augmented Reality. Mit welchem didaktischen Sinn kann man denn VR im Geschichtsunterricht gut einbinden?
Christian Kuchler: VR ermöglicht es, historische Orte noch stärker in den Unterricht mit einzubeziehen. Bislang ist es sehr aufwendig, eine Exkursion zu einem historischen Ort zu unternehmen. Es ist ja schwer möglich, dass Schüler/innen der sechsten Klasse zu den Pyramiden nach Gizeh fahren. Eine Exkursion dorthin ist faktisch unmöglich. Aber den historischen Ort über Virtual-Reality-Angebote zu erkunden, als Quelle zu erschließen, ist eine neue Dimension für das historische Lernen auch im schulischen Kontext, die wir vielleicht künftig noch viel stärker in den Blick nehmen können.
Kristopher Muckel: In dem Kontext kann der Geschichtsunterricht auch seiner Aufgabe im Bereich von Medienkompetenz auf eine ganz neue Art und Weise gerecht werden, gerade mit Blick auf Aspekte der Medienkritik. Wenn Schülerinnen und Schüler sich in virtuellen Umgebungen befinden, wird die Frage nach dem, was belegbar ist, was man im Virtuellen sieht, was eben nicht, was Fakt und was Fiktion ist, auf ganz neue Art und Weise herausgefordert. Denn Virtual Reality als immersives Medium möchte eigentlich nicht analysiert werden. Und Schülerinnen und Schüler dafür zu sensibilisieren, nicht hinzunehmen, was das Medium ihnen präsentiert, sondern zu hinterfragen, ist etwas, was der Geschichtsunterricht hier mit historischem Gegenstand leisten kann, was aber sicherlich auch über den Geschichtsunterricht hinaus von Bedeutung sein kann.
Gabriele Irle: Können Sie ein paar Beispiele nennen für die Begegnung mit historischen Orten?
Christian Kuchler: Eine Möglichkeit ist der Besuch von Gedenkstätten. Schulische Exkursionen zu früheren Orten von NS-Gewaltverbrechen, aber auch von SED-Diktatur, wird gesellschaftlich ein ganz hoher Stellenwert zugeschrieben. Wir haben am Beispiel von Exkursionen zum ehemaligen KZ Auschwitz-Birkenau untersucht, ob diese Fahrten ergänzt werden können über VR-Angebote. 360°-Filme können dazu dienen, solche Exkursionen noch vertiefter nachzubereiten. Gerade in Oświęcims, also in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, sind fast immer sehr, sehr viele Besucherinnen und Besucher. Das heißt, Schüler/innen können den Ort gar nicht so auf sich wirken lassen, gar nicht so analysieren, wie sie das vielleicht gerne möchten. Dadurch ergibt sich durch 360°-Filme das Potenzial, im Nachklang den besuchten historischen Ort noch einmal vertiefter zu analysieren und dadurch vielleicht auch noch mehr über die Vergangenheit zu erfahren.
Gabriele Irle: Gibt es denn auch Beispiele, wo Schüler und Schülerinnen produktiv VR-Umgebungen entwickeln können?
Kristopher Muckel: Gerade wenn es um Orte geht, die weniger häufig besucht werden, bietet sich die Möglichkeit, dass Schüler/innen im Rahmen der Exkursion tatsächlich selbst 360°-Aufnahmen des Ortes machen. Das kann, wenn verfügbar, mit 360°-Kameras passieren, für die meisten Anwendungen reichen aber tatsächlich auch Panoramaaufnahmen, die man im Grunde mit jedem beliebigen Smartphone machen kann. Das Potenzial, das wir hierin sehen, ist, dass die Lernenden einerseits am Ort in ihrer Aufmerksamkeit gesteuert werden: Was möchte ich mitnehmen? Und auf der anderen Seite, dass sie in der Nachbereitung im Unterricht einen wesentlich stärkeren Eindruck dieses Ortes weiterverarbeiten können. Sie haben dort die Möglichkeit, aus den gemachten Aufnahmen selbst eine Art virtuellen Nachbau ihrer Exkursion zu machen, den sie mit ihren eigenen Eindrücken, aber auch mit Quellenmaterial, beispielsweise in selbst erstellten Infotexten, anreichern können.
Gabriele Irle: Erzählen Sie uns doch ein bisschen darüber, wie Schüler/innen und Lehrkräfte überhaupt auf VR, AR reagieren, wenn sie es im Unterricht erleben. Was passiert, wenn die erste Begeisterung oder Skepsis schon abgebaut ist und man wirklich anfängt, mit dem Material zu arbeiten?
Kristopher Muckel: In der ersten Begegnung von Schüler/innen mit Virtual Reality hat man meistens erstmal einen Anstieg der Motivation: Wow, es passiert was Neues im Unterricht. Das ist etwas, was man so im Alltag in der Schule im Grunde nie erlebt. Die zweite Reaktion ist: Oh. Weil es einfach nicht das ist, was Lernende von Virtual Reality erwarten. Die Erwartungen sind durch Videospielanwendungen auf eine Art und Weise geprägt, was die historische Virtual-Reality-Anwendung aber nicht leisten kann und auch nicht leisten will.
Überwindet man diese Phase, bleibt es jedoch weiter schwierig, mit Lernenden das immersive Medium wirklich zu analysieren. Kommt man dann aber dahin, ergeben sich durchaus hochinteressante Effekte, gerade weil die Wahrnehmung der Virtual Reality sehr, sehr individuell ist. Stellen Sie sich vor, Sie haben die Möglichkeit 360° um sich herum Dinge zu betrachten. Dann ist die Spannweite dessen, was die einzelnen Lernenden tatsächlich in den Fokus nehmen, häufig wesentlich divergenter, als wenn sie ein lineares Medium vor sich liegen haben.
Auf Seiten der Lehrkräfte überwiegt häufig am Anfang die Skepsis mit Blick auf die Technik. Für Lehrkräfte ist es sehr wichtig, vor ihrer Lerngruppe kompetent zu wirken und man möchte, so haben unsere Interviews mit Lehrkräften ergeben, unbedingt vermeiden, dass es nicht funktioniert. Überwindet man diese Schwelle insbesondere auch dadurch, dass man den Lehrkräften klar macht, dass sie nicht direkt mit einem Koffer mit VR-Brillen in den Unterricht gehen müssen, sondern tatsächlich technisch simpel mit einem 360°-Video, dass sie am Smartboard zeigen oder mit Smartphones anfangen können, kommt man sehr schnell dahin, dass Lehrkräfte der Überzeugung sind, dass sie aus ihrer Ausbildung und ihrer Erfahrung heraus die didaktische Kompetenz haben, diese Medien einzuführen und sich allenfalls noch eine Handreichung wünschen: Wo finde ich das, worauf muss ich achten, was sind die Inhalte? Darüber hinaus sind Lehrkräfte wie gesagt durchaus der Ansicht, die didaktische Kompetenz zu haben, Virtual Reality einzusetzen.
Gabriele Irle: Gibt es Momente, wo Sie daran zweifeln, dass VR tatsächlich in Zukunft in der Breite des Geschichtsunterrichts eingesetzt werden wird?
Christian Kuchler: Die Zweifel gibt es im Moment sicherlich noch, weil ganz viele Lehrkräfte, aber auch viele Schüler/innen das Medium noch überhaupt nicht kennen. Ich glaube, dass es nicht so sein wird, dass VR den Geschichtsunterricht dominieren, sondern es wird ein weiteres Angebot sein in der Fülle der Angebote, die bereits für den Geschichtsunterricht bestehen. Ein Angebot, das die Digitalität noch weit mehr ausschöpft, als das bislang beispielsweise beim Einsatz von Filmen der Fall war, und eines, das für Lernende eine große Möglichkeit gibt, sich im digitalen Raum noch kompetenter zu bewegen und zusätzliche Methodenkompetenzen gerade im Umgang mit immersiven Medien zu erwerben.
Gabriele Irle: Geschichte und Zukunft ist eine spannende Kombination, die ja auch derzeit viel diskutiert wird. Können Sie uns teilhaben lassen, wie Sie persönlich die Entwicklung des Schulfachs Geschichte in den nächsten zehn Jahren sehen, sowohl allgemein als auch in Bezug auf digitale Medien und die Verortung in der digitalen Welt?
Christian Kuchler: Es ist ja immer schwierig, wenn Historiker versuchen, in die Zukunft zu schauen, weil wir das ja eigentlich am wenigsten können. Aber blickt man in die letzten 20 Jahre des Schullebens, wird man feststellen, dass das Fach Geschichte, ebenso wie das Fach Politik, ganz starke Einschnitte erlebt hat. Viele Deputate in den Stundenplänen sind reduziert worden, jenseits des Gymnasiums sind Fächer zusammengelegt worden und zu Kombifächern fusioniert worden. Da hoffe ich, dass die aktuelle Diskussion um den Zustand der Demokratie, bei der ja auch die Frage vom Umgang mit Geschichte eine ganz bedeutsame Rolle spielt, dazu führt, dass dem Fach wieder mehr Bedeutung zugemessen wird.
Kristopher Muckel: Nicht nur mit Blick auf Virtual Reality, sondern grundsätzlich mit Blick auf eine Kultur der Digitalität, glaube ich, dass der Geschichtsunterricht sich seiner Verantwortung im Bereich auf Medienkompetenz und Medienbildung noch bewusster werden wird, als er das jetzt ist – wobei sich da auch schon vieles entwickelt hat. Von besonderer Relevanz ist sicherlich auch, dass die Erkenntnisse, die die Geschichte, die Didaktik als Wissenschaftsdisziplin generiert und generiert hat, schlussendlich auch im Geschichtsunterricht ankommen, über Transferprozesse, wie sie im Verbundprojekt ReTransfer ja auch angestoßen worden sind.
Christian Kuchler: Ganz wichtig ist, dass wir heute Kinder und Jugendliche dafür ausbilden, dass sie kompetent über Geschichte sprechen können, dass sie an einem gesellschaftlichen Kommunikationsprozess über historische Vorgänge und Tatsachen teilnehmen können und dass sie dazu so kompetent gemacht werden, dass sie in 20, 30 oder 40 Jahren auch noch mit medialen und digitalen Erscheinungsformen, von denen wir heute noch überhaupt nicht wissen, wie die aussehen werden, kompetent umgehen können, dass sie also nicht völlig überfordert sind von solch beispielsweise immersiven Medien, wie wir sie ja bei VR durchaus haben. Auch dafür müssen wir Schüler/innen zukunftsfähig machen.
Kristopher Muckel: Die Zukunftsfähigkeit von Lehrkräften und Schüler/innen mit Blick auf digitale Medien hängt in großem Maße an ihrer digitalen Souveränität. Also an der Möglichkeit, digitale Medien kriteriengeleitet auszuwählen und so damit umzugehen, dass sie den Zweck, den ich damit verfolge, auch wirklich erfüllen können. Dass Lernende, genauso wie Lehrende, sich nicht von dem Medium treiben lassen oder von der Umgebung des Mediums, sondern ganz konkret und kompetent damit arbeitend interagieren können. Die Impulse zusammenzuführen, die Wissenschaft, Gesellschaft und Technik diesbezüglich mit sich bringen, das wird vermutlich das Entscheidende sein – aber auch das, woran wir jetzt mit entsprechenden Fortbildungskonzepten und Ähnlichem auch schon arbeiten können.
Gabriele Irle: Ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch und die vielen spannenden Einblicke und Überlegungen.
Christian Kuchler: Danke.
Kristopher Muckel: Danke schön.
Dieses Transkript gehört zum Interview Historisch! Wenn Schülerinnen und Schüler geschichtliche Orte mit Virtual Reality erkunden.